Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes werden derzeit rund 70 Prozent
aller Pflegebedürftigen zu Hause versorgt. Allein 2020 soll es Schätzungen
zufolge 2,9 Millionen Menschen geben, die sich nicht selbst versorgen können.
2030 sollen es bereits rund 3,4 Millionen sein. „Die Pflege Angehöriger ist ein
Thema, das akut ist. Aber es wird noch nicht genügend darüber gesprochen. Wer
nicht betroffen ist, klammert das gerne aus“, stellte Dr. H. Elisabeth
Philipp-Metzen, Geschäftsführerin der GeWiss Gerontologie – Wissen für die
Praxis aus Laer und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln,
klar. Einer Erhebung von TNS Infratest zufolge sind es vor allem Frauen (73
Prozent), die die häusliche Pflege Angehöriger übernehmen. Eine Aufgabe, die
Berufstätigen einiges abverlangt.
Hilfe leisten soll deshalb das
Pflegezeitgesetz. „Ziel ist es, den Beruf und die Pflege von Angehörigen zu
Hause unter einen Hut zu bekommen. Das heißt vor allem, zu organisieren. Das
fängt bei der Installation eines Treppenliftes an und geht bis zum
Essenanreichen“, weiß Philipp-Metzen. Bei einer akut auftretenden
Pflegesituation kann ein Arbeitnehmer bis zu zehn Arbeitstage frei bekommen, um
die bedarfsgerechte Pflege zu organisieren. „Das kann man nicht immer zu 100
Prozent allein erledigen. Wichtig ist, rechtzeitig die richtigen Anlaufstellen
zu kontaktieren, die dabei helfen können“, betonte Philipp-Metzen.
Die
Pflegezeit, also die Betreuung naher Angehöriger über einen längeren Zeitraum
von höchstens sechs Monaten und somit eine teilweise oder vollständige
Freistellung von der Arbeit, können nur Arbeitnehmer beantragen, die bei einem
Betrieb angestellt sind, der mehr als 15 Mitarbeiter beschäftigt. Eine Lösung
für sechs Monate zu suchen, sei aber nicht ausreichend. „Die Dauer der
Pflegefälle ist meistens nicht voraussehbar. Deshalb ist es wichtig, Lösungen
über diesen Zeitraum hinaus zu finden. Insbesondere Betriebe, die weniger als 15
Beschäftigte haben, müssen individuelle Lösungen finden. Und da ist der
Arbeitgeber gefragt“, forderte Philipp-Metzen. Denn die Pflege von Angehörigen
bedeute vor allem Veränderung. Nach der Arbeit geht es dann oftmals nicht direkt
zum Sport oder zur eigenen Familie, sondern zur 72-jährigen Mutter mit dem
Herzinfarkt. „Die Gefahr der Isolation ist dann sehr groß, da für andere
Freizeitgestaltung kaum Zeit bleibt. Neben der körperlichen Belastung ist die
Stabilität der Psyche wichtig. Oft kommt es zur Überlastung der Personen durch
die doppelte Rolle als Pflegender und als Mitarbeiter“, weiß Philipp-Metzen.
Mitunter können zwischen Arbeitstelle und Pflegeort nämlich mehrere Kilometer
liegen. Dazu komme, dass beispielsweise die mentale Stärke bei der Pflege von
Alzheimerpatienten groß sein müsse. „Ein typisches Beispiel ist, dass der
Erkrankte an einem Tag in guter Verfassung ist, das meiste selbst regeln kann
und Hilfe ablehnt, am nächsten Tag aber einbricht und vieles nicht alleine lösen
kann. Dabei Ruhe zu bewaren und die Krankheit zu verstehen, ist nicht immer
einfach“, machte die Fachfrau klar.
Um die Doppelfunktion zu meistern, kommt es auch auf die Unterstützung des
Arbeitgebers an. Voraussetzung ist, dass der betroffene Mitarbeiter seinen Chef
in Kenntnis setzt, damit dieser überhaupt reagieren kann. „Und genau das ist
noch ein Manko. Denn viele Mitarbeiter scheuen davor zurück, ihrem Arbeitgeber
private Probleme zu erzählen. Dass eine Mitarbeiterin zum Beispiel jeden Morgen
vor der Arbeit noch das Bett ihrer inkontinenten Mutter neu bezieht, ist eher
ein Tabuthema“, gab Philipp-Metzen zu Bedenken. Dennoch sei Information das A
und O für eine Vernetzung von Pflege und Beruf. Darauf machte auch Marcus
Hörsting, Personalleiter bei Friwo, aufmerksam: „Ich möchte nicht, dass ein
Angestellter einfach grundlos zwei Tage frei nimmt und wir nicht wissen, was
passiert ist. Deshalb legen wir großen Wert darauf, dass unsere Mitarbeiter in
solchen Situationen mit uns reden und wir gemeinsam eine Lösung finden.“ Darüber
hinaus sacke die Leistungsfähigkeit bei dauerhafter Doppelbelastung von Arbeit
und Pflege ab. „In Zeiten des Fachkräftemangels ist es schwierig, Mitarbeiter
komplett zu ersetzen“, so Hörsting.
Betriebe können ihre Mitarbeiter
unterstützen, indem sie Ansprechpartner im Betrieb für solche Probleme nennen
und Offenheit gegenüber dem Thema zum Beispiel in Mitarbeitergesprächen
signalisieren. Auch Informationsveranstaltungen oder Notfallpakete mit den
wichtigsten Adressen von Anlaufstellen vor Ort könnten dabei helfen, so die
Veranstalter.